Gressenich: Sagen u. Märchen






Gression - die versunkene Stadt am Omerstrom


Vor langer Zeit gab es eine Stadt, die so groß war, dass sie das ganze Land umfasste, das heute zwischen Köln und Aachen, Düren und Jülich liegt. Sie hieß Gression. Wer ihre Mauern hätte umschreiten wollen, hätte wohl hundert Stunden dazu gebraucht. Doch würde man nie von ihr erfahren haben, wäre nicht eines Tages einem Bauern beim Pflügen die Pflugschar in Stücke gegangen, weil sie im Feld auf etwas Hartes stieß, das sich beim Nachgraben als Kirchturmskreuz erwies.
Als der Bauer den Spaten beiseite gelegt, schien es ihm, als höre er Glockenläuten aus der Tiefe. Er lauschte eine Weile und verstand nicht, was ihm geschah. Schließlich begann er das Loch wieder zuzuwerfen, und je mehr Erde er auf die Kirchturmspitze schaufelte, umso schwächer wurde das Geläute, bis er endlich nichts mehr vernahm. So fuhr er nach Hause und brachte an seinem Pflug eine neue Pflugschar an. Doch so sehr ihn seine Arbeit auch ablenkte, das Geschehnis ging ihm nicht aus dem Kopf. Nachts wälzte er sich unruhig im Bett umher, schwitzte und atmete schwer.
In der Mathiasnacht - in einer solchen war er geboren - hielt er es nicht mehr aus. Heimlich, so dass seine Frau nichts merkte, stand er auf und ging mit dem Spaten hinaus auf den Acker. Der alte Glaube, dass einem in solcher Nacht Geborenen wunderbare Dinge offenbar würden, bewahrheitete sich, kaum dass er angefangen hatte zu graben. Gerade als er das Turmkreuz freigelegt hatte, vernahm er das Läuten noch besser als am Tage, und sogleich erstrahlte die Erde unter dem Feld in hellem Licht, so das der Boden durchsichtig ward wie Glas.
Furchtsam und vorsichtig, als könne er das zarte Gewölbe unter seinen Füßen zerbrechen, kniete der Bauer hin und stützte sich auf die Hände. Doch bald wich seine Angst dem Gesicht des Wundersamen, das sich ihm dort unter dem gläsernen Boden seines Ackers offenbarte.
Soweit er sehen konnte, zogen sich breite, saubere Straßen dahin, zu deren Seiten große Parks und gepflegte Gärten zu erblicken waren. Darin lagen Häuser, die alle einen recht vornehmen Eindruck machten; manche von ihnen sahen Palästen ähnlich, andere schienen Tempel oder Kirchen zu sein. Aber niemand kam heraus oder ging hinein, obwohl die Glocken nicht aufhörten zu läuten. Die Straßen jedoch waren voller lustwandelnder Menschen in Feiertagskleidern; viele tanzten vor offenen Hallen, in denen Musikanten spielten, andere aßen, tranken und unterhielten sich lachend an überladenen Festtafeln.
Indessen lauerten vor den Mauern der Stadt finstere Kriegergestalten mit ihren Waffen; sie hatten Geschütze aufgefahren und fanden die Mauern und Türme von Wächtern entblößt. Niemand in der Stadt dachte an Gefahr, keiner trug Waffen bei sich, alle schienen sich auf die Stärke des Mauerringes zu verlassen, der sie schützte.
Der Bauer, der sein Leben lang fleißig gearbeitet hatte und kaum ein Vergnügen kannte, dachte, es sei wohl eine Sünde, dem Herrgott auf solch eine Weise den Tag zu stehlen; er ahnte, dass das nicht gut gehen konnte. So wunderte er sich nicht, als mit einem Male Geschrei durch den gläsernen Boden drang, der sogar den Klang der Glocken übertönte. Von allen Seiten stiegen die Feinde über die Mauern, stürmten in die Straßen und metzelten nieder, was ihnen in den Weg kam. Die Bürger von Gression flüchteten in ihre Häuser, aber auch dorthin verfolgten sie die Eindringlinge, erzwangen mit Gewalt Einlass und schlugen, stachen und schossen jeden nieder, der ihnen in die Quere kam. Schreie gellten, Brände loderten, Rauch lagerte sich wie dichtes Gewölk über die Stadt. Häuser, Tempel und Bäume brannten wie Fackeln; nur die Kirchen ragten unversehrt aus dem Meer von Rauch, Funken und wüstem Geschrei, und ihre Glocken wimmerten wie hilflose Kinder. Der Bauer bedeckte Augen und Ohren; er rang nach Luft und wollte schreien. Schon meinte er, sein eigenes Ende nahte, da schlug die Glocke vom heimatlichen Kirchturm die Mitternachtsstunde.
Sogleich verfinsterte sich das Bild unter seinen Füßen, die Glocken der verwüsteten Stadt verstummten, und über ihm wölbte sich ein friedlicher Sternenhimmel. Die Erde unter seinen Händen war körnig und kühl, der gläserne Boden verschwunden. Schnell scharrte er das Loch über der versunkenen Kirchturmspitze zu und wankte mit wirrem Kopf nach Hause.
Am nächsten Morgen kannte ihn kaum noch einer wieder; er war über Nacht alt und grau geworden, und sein Geist war verworren. Immer wieder murmelte er vor sich hin: “Zu Gression am Omerstrom ward eine blutige Schlacht geschlagen”, aber die es hörten, wussten damit nichts anzufangen. Noch kein Jahr später verstarb er; doch war er vorher noch einmal zu Verstand gekommen und hatte erzählen können, was ihm in jener schrecklichen Nacht für ein Gesicht zuteil geworden war. So kam es, dass der Glanz und der Untergang der mächtigen Stadt Gression uns überliefert wurden.

(Quelle: Heimatblätter 1936)


Weitere Informationen über Gression finden Sie im Internet unter:

Stolberg - ABC

Galminus

Pfarre Langerwehe